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Die neunten November | irgendwie jüdisch

Die neunten November

Ein Nebenfoto, nur im unteren Bereich kann man etwa Feld erkennen, ein Weg und ein Baum auf der linken Seite - sonst nichts.

Es ist der 9. November. Immer so ein Doppeldeutungstag, so ein deutscher Tag. Immer fiel es mir schwer, die Bedeutungen zusammenzubringen: das unerträgliche Leid und das überwältigende Glück. Letzteres ist realer Teil meines Lebens gewesen – und ist es noch.

Doch schaue ich mich heute um, denke ich oft, wie nah man diese Tage zusammenbringen kann. Meine Gedanken in diesem Jahr erinnern an die Gewalt des 9. November 1938, an das mehr als offensichtliche bzw. wirklich letztlich für alle sichtbare Ende einer Demokratie, die keine Chance hatte. Einer Demokratie, deren Ende durch das Sagbarmachen von Unvorstellbarem beendet wurde. Auch hier fing es mit Worten an, auch hier wurde der Hass gesät, gepflegt, gepäppelt, belohnt.

Heute wissen wir um die Veränderung der Sprache, wir wissen, wie sich diese unsere Sprache in den letzten Jahren verändert hat, wie Dinge Einzug fanden, die unsagbar, ja sogar undenkbar schienen. Doch gedacht wurde da schon lange, immer noch, immer wieder. Es wurde gewarnt, es wurde ignoriert. Ignoranz gegenüber denen, die es gesehen haben. Heute ist der Hass Tropfen für Tropfen eingedrungen, das Selbstmitleid, Besitzstandswahrung. Empathie ist dabei auf der Strecke geblieben.

Ich muss an die Jahre nach 1989 denken. Die Jahre, in denen der Hass schon einmal offen sichtbar war – und natürlich die Jahre davor in Berlin. Ich weiß natürlich, um die eher halbherzlichen Versuche der DDR gegen das vorzugehen, dass es doch nicht geben durfte: Rechtsextreme, Neonazis. Sie blieben, sie wurden mehr, sie etablierten sich – und die Menschen zuckten die Schultern. Die Lehrkräfte behaupteten, das gäbe es nicht an ihrer Schule. Selbst als Schülerinnen und Schüler Hilfe suchten, weil sie die tägliche Bedrängung nicht aushielten. Selbst wenn die Nazisprüche im Unterricht fielen tat niemand etwas. Selbst nachdem ein Mitschüler fast totgeprügelt wurde, wiegelte man ab – war ja nur vor der Schule, nicht auf dem Gelände. Was wurde aus diesen Leuten? Ich selbst verließ die Schule. Die selbsternannten Fürsorger des „neuen Deutschlands“ blieben, legten ihr Abitur ab und dann? Andere Vertreter ihrer Art traf ich auf der Uni wieder. Auch hier: Dozent:innen und Professor:innen entweder gesegnet von unendlicher Naivität oder gefährlicher Ignoranz taten nichts, wenn Studierende davon sprachen „Fitschis“ zu vermöbeln, wenn sie mit ihren Torhämmern durch die Hallen stolzierten. Was wurde aus all denen? Sind sie verschwunden? So hoffte man wohl. Doch heute wissen wir, dass die „Baseballschlägerjahre“ keinesfalls ohne Folgen blieben. Der NSU hatte seine Wurzeln hier.

Ich bin bei weitem keine Spezialistin, ich kann nur das erzählen, das ich erlebte, kann nur das schildern, was ich sah. So viele haben geschrieben, deutlich gemacht und hingezeigt – aber es ist eben bequemer nichts zu sehen und zu hoffen, dass es allein weggeht. „Problemlösung durch Ignorieren“ – gängige Methode, die unweigerlich in die Katastrophe führt.

Heute wundert man sich nun, warum wieder Menschen dem in Worten eingeträufelten Hass anheimfallen, warum man es normal findet und „doch gar nicht so falsch“ wenn Wortschöpfungen von „Remigration“ durch die Blätter fegen. Wenn der halsschwellende Hass im hohen Haus, Alltag wurde. Auch hier eine Gewöhnung.

Selbst die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen werden jetzt als „von der Regierung“ initiiert dargestellt. Nicht von irgendwelchen Leuten, sondern jenen, die offizielle Ämter ausfüllen. Schließlich habe man die doch gebraucht, um dann im Dezember darauf den „Asylkompromiss“ in die Wege zu leiten. Hmm … sicher, auch 9/11 wurde von der Regierung … aber lassen wir das.

Das unbändige Glück des zweiten 9. Novembers, ich muss daran festhalten und darf es mir nicht nehmen lassen. Es war der Beginn der Freiheit, einer Freiheit, die mir immer verwehrt geblieben wäre. Es war der Beginn des Lebens in einer Demokratie, einer Demokratie, an die ich fest glaube und für die ich dankbar bin. Seit meinem 18. Geburtstag habe ich nicht eine Wahl versäumt. Und natürlich bin ich nicht immer zufrieden mit dem Ergebnis, aber es wird wieder eine Wahl geben. Ich nutze sie nicht, „abzustrafen“. Man kann mit Politiker:innen auch sprechen, auch zwischen den Wahlen, es gibt demokratische Mittel – und sie funktionieren. Trotz allem sehen wir das gerade in diesen Tagen. Kein Chaos bricht aus. Es wurde gelernt aus Weimar.
Demokratie und Freiheit sind nicht immer einfach. Dazu gehört das eigene Engagement. Es ist eben nicht mehr das einfache System von „die da oben“ und wir „hier unten“, die nichts tun können. Dass das so tief verankert sei, hätte ich mir nie denken können – gerade nach den 80er Jahren in der DDR sollte man wissen, dass gerade „das da unten“ wichtig ist, bedeutsam ist. Was die Umweltbewegung in der DDR bewegte, zu was sie führte, was Kirchen erreichen können, wenn sie mehr sind als Orte des Gebets, sondern Orte der Freiheit, das hat der 9. November 1989 gezeigt.

Niemand hat je gesagt, dass alles einfach werden wird. Das ist es nicht. Gerade meine Generation, die egal woher, kaum Ausbildungsplätze fand, denen man in den Unis gleich in den ersten Vorlesungen sagte „Sie braucht niemand, was wollen Sie hier?“, die wir über Jahre in höchst prekären Arbeitssituationen verbrachten, wenn wir überhaupt Arbeit fanden. Für uns waren die Jahre nicht einfach, sie waren ein Kampf – aber eben ein Kampf, den wir in Freiheit führten.

Und letztlich war der 9. November 1989 auch eine Befreiung für die Menschen, die Religionen ausübten. Das wird so gern vergessen. Religiös in der DDR kostete etwas. Und ich kann mich an dieses Aufatmen erinnern.

Und doch werde ich heute irgendwo stehen und an den 9. November 1938 erinnern, an den Tag, von dem wir hätten lernen sollen. Der Tag ab dem niemand mehr sagen konnte, er hätte von nichts gewusst, der Tag, an dem nicht mal weggesehen wurde, an dem Eltern mit ihren Kindern zu den brennenden Synagogen gingen, als wären sie ein Jahrmarktsspektakel. Als man sich bereicherte, plünderte, zu Tode hetzte.

All das ist eingebrannt, es ist immer noch Gegenwart und kommt immer wieder, wenn wieder jüdische Menschen durch Straßen gehetzt werden, wie gerade in Amsterdam. So viel kommt zusammen, so viel ist nicht bewusst. Und es macht müde. Mensch zu sein, ist schwer in diesen Tagen, doch es ist die einzige Chance, die wir haben, um uns vor jenen zu schützen, die das nicht wollen, die nur sich sehen, und ihr Fortkommen. Aus der Geschichte wissen wir, irgendwann geht man wortwörtlich über Leichen.

Ich glaube an Menschenrechte, an Freiheit und Demokratie – und ich möchte nur noch in einem Land leben, in dem sie geachtet und befolgt werden. Einfach war es noch nie und es gibt Zeiten, um die man sie verteidigen muss. Diese Zeiten sind jetzt.


Foto: Michi von Pixabay


Eine Antwort

  1. Wie anders Du den 09. November 1989 erlebt hast als ich hier im Westen. Ich studierte damals in einer Stadt an der deutsch-französischen Grenze, bereitete mich langsam aufs Examen vor, und nach vier Jahren an diesem Ort waren wir alle nahezu zweisprachig. Wir waren nach Frankreich orientiert, nicht in Richtung des „anderen Deutschlands“. Ja, es gab Animositäten zwischen älteren Franzosen und älteren Deutschen, aber es gab andererseits viele gemeinsame Projekte von Student*innen und Auszubildenden. Es gab ein recht umfangreiches kulturelles Angebot in beiden Sprachen, die Eintrittspreise waren erschwinglich. Die mittelalte Generation sprach viel von Völkerverständigung, die junge lebte sie ganz selbstverständlich und im Alltag.
    Die Baseballschlägerjahre – wobei mir der Ausdruck damals noch unbekannt war – habe ich erst ab 1991 im Beruf mitbekommen. Ich erinnere mich an einen Fall, wo jungen spanische Touristinnen, die in der Ex-DDR unterwegs waren, das Auto angezündet wurde. Es gab dann noch mehrere ähnliche Fälle, und wir dachten: ach ja, die im Osten, alles Nazis… (was sich ja im Nachhinein als falsch herausgestellt hat).

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