Ich lese Deinen Text mit großer Neugierde, da ich gerade vor einer Woche eine Hausarbeit zum Thema Erinnerungskultur und „Erziehung nach Auschwitz“ abgegeben habe. (Mir fällt kein besserer Ausdruck als „Erziehung nach Auschwitz“ ein, obgleich mein Eindruck ist, dass nur wenige, die dieses Schlagwort benutzen, den Text von Adorno in voller Länge gelesen haben, sonst würden sie nicht meinen, dass Partizipation an der sogenannten Erinnerungskultur irgendetwas mit dem zu tun hat, was Adorno sagen wollte.)

Als ich zur Schule gegangen bin, wurden noch nicht alle Schulklassen mit Zeitzeugen konfrontiert und in Gedenkstätten gefahren. Erst als Erwachsene habe ich einen Zugang zum Thema gefunden, und zwar indem ich Berichte von Überlebenden gelesen habe: Primo Levi, Jorge Semprun, Imre Kertesz, Ruth Klüger und die Berichte von einigen nicht so bekannten Überlebenden. Aus jenem Grund stehe ich der Debatte um Zeitzeugen und das Aussterben derselben etwas erstaunt gegenüber: Es gibt doch ganz starke Bücher, von denen man sehr vieles erfahren kann. Und gerade weil sie künstlerisch gestaltet sind, kommen auch die Emotionen an. Vor allem wurden diese Texte nicht für Deutsche geschrieben und können nicht instrumentalisiert werden.

Aus meiner Beschäftigung mit dem Erinnerungs- und Erziehung-nach-Auschwitz-Diskurs habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich die Erinnerungskultur immer noch sehr stark um die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Schuld beziehungsweise Verantwortung dreht. Man versucht, mit der Schuld fertig zu werden und eine positive nationale Identität zu gewinnen, indem man sich zum Erinnerungsweltmeister erklärt und das Gedenken an den Holocaust zu einer Art Nationalkultur erklärt (in die Eingewanderte und ihre Nachfahren dann mühsam eingeführt werden müssen.) So lange man in erster Linie mit sich selbst beschäftigt ist, wird man den Überlebenden und ihren Nachfahren nicht zuhören können, ohne sie zu instrumentalisieren. Echtes Zuhören würde bedeuten, dass man eine Weile lang das Leiden am Deutsch-sein beiseite stellt und sich ganz auf die andere Person einstellt. (Und ich bin davon auch nicht frei – auch für mich ist die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung immer noch wichtig.)

Wenn es bei Veranstaltungen mit Zeitzeugen in erster Linie um die Jugendlichen und nicht um die Zeitzeugen geht – oder eben auch um ihre Nachfahren – also, wenn die Zeitzeugen nicht über das sprechen, was ihnen wichtig ist, sondern alles pädagogisch wertvoll sein soll, mit genau dem richtigen Level an Emotionalität, damit die Jugendlichen etwas lernen, aber nicht überfordert sind, dann läuft doch etwas schief.

Und wenn man den Zeitzeugen der zweiten oder dritten Generation nun Vorgaben macht, worüber sie sprechen sollen – nur über die Vergangenheit ihrer Familie, nicht über ihre Gegenwart in Deutschland, dann läuft doch auch etwas schief. Dann werden Shoah und Antisemitismus zu Themen der Vergangenheit erklärt, so dass man sich beim Erinnern als Erinnerungsweltmeister fühlen kann, anstatt sich mit Problemen der Gegenwart auseinanderzusetzen.