Das Besondere, und mich persönlich besonders berührende, war eine weitere Festlegung in der Stiftungssatzung: die Mädchen sollen zu gleichen Teilen jüdischer und christlicher Konfession angehören. Ein Zeichen für Entwicklung der Gesellschaft, die leider nicht mehr lang anhalten sollte.
Hier in Treptow, damals noch Villenvorort Berlins, stehen noch einige der einst herrschaftlichen Gebäude, die Hoffmannstraße 11 ist auch nach seiner Sanierung kein Prunkbau. Allein der goldene Schriftzug, der heute wieder unter dem Dach glänzt, lässt fragen, was es wohl sei oder einst gewesen war und war auch Grund für mich, einmal nachzusehen. Andere Bauten des Architekten Breslauer sind besser bekannt, so u.a. die Polnische Apotheke in der Friedrichstraße.
Heute befinden sich hier – wie soll es auch anders sein – Eigentumswohnungen der gehobenen Klasse. Interessant übrigens, dass das Haus zuletzt Zuhause von unbegleiteten Flüchtlingen war. Ein kleines Zurückkehren zu seinen Ursprüngen bis es 2001 geschlossen wurde. Zuvor war es Wohnheim für Jugendliche und junge Frauen in der Ausbildung, Verwaltungsgebäude der Wehrmacht und Volkshochschulgebäude. 2012 wurde es vom Land Berlin verkauft und ist nun, was es ist: nicht mehr öffentlich und nicht mehr der Fürsorge verpflichtet. Schade eigentlich.
Persönlich würde mich hier allerdings eines interessieren, WARUM die Stiftung 1935 an die Wehrmacht verkaufen musste. Das Heim musste bereits 1921 in Folge der Wirtschaftskrise seine Arbeit einstellen. Wäre das keine Restitutionsfrage? Vermutlich gibt es keine Nachfahren. Ich bin nicht fündig geworden – abgesehen davon wissen wir inzwischen zu gut, dass es Berlin mit der Restitution oft nicht genau nahm. Spektakulär die nur durch Prozesse restituierten Grundstücke der Wertheim Nachfahren am Potsdamer und Leipziger Platz. Mir bleibt hier ein schaler Beigeschmack.
Doch zurück zur Geschichte: außer ein paar Eintragungen in Archiven findet sich nicht viel. Wer waren die Mädchen? Welche Ausbildung erhielten sie? Welches Leben erwartete sie? Nur ein Eintrag aus dem Buch „Die Wohlfahrtseinrichtungen von Groß-Berlin nebst einem Wegweiser für die praktische Ausübung der Armenpflege in Berlin“ von 1910 gibt etwas mehr Text her.
Und wer war letztlich dieses Fräulein Helene Pufahl, 1910 Leiterin eben jenes Waisenhauses der „Moritz und Johanna Simon Stiftung“? Eigentlich wollte ich doch etwas über sie herausfinden. Ist sie dieselbe Helene Pufahl, die Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ erwähnt:
Unter den Ansichtskarten meiner Sammlung gab es einige wenige, deren
Schriftseite mir deutlicher in der Erinnerung haftet als ihr Bild. Sie
trugen die schöne, leserliche Unterschrift: Helene Pufahl. Das war der
Name meiner Lehrerin. Das P, mit dem er anhob, war das P von Pflicht,
von Pünktlichkeit, von Primus; f hieß folgsam, fleißig, fehlerfrei, und
was das l am Ende anging, war es die Figur von lammfromm, lobenswert und
lernbegierig. So wäre diese Unterschrift, wenn sie, wie die
semitischen, aus Konsonanten allein bestanden hätte, nicht nur Sitz der
kalligraphischen Vollkommenheit gewesen, sondern die Wurzel aller
Tugenden.
(Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Kapitel 2, Zwei Rätselbilder)