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Über Juden in der Vergangenheit zu Laschon haRa

Das Gespräch, das mir noch immer im Kopf herum geistert, bzw. der Monolog, zu dem ich einen Kommentar abgab, liegt nun schon einige Wochen zurück und beschäftigt mich noch immer. Deshalb möchte ich darüber schreiben. Darüber, was für Juden (und andere Minderheiten) noch immer Alltag ist – was aber, so wie es scheint, von „draußen“ als Vergangenheit betrachtet wird. 
 Es ist ein schöner Sommertag. Eine Gruppe von Menschen ist zusammen. Irgendwie kommt das Gespräch auf historischen Judenhass. Eine interessante Analyse eines das Thema entdeckenden Teilnehmers wird zum besten gegeben. Sie ist frei vom üblichen „nun, sie waren eben auch einfach anders“, das man tatsächlich oft genug hört. Fast mit kindlichem Erstaunen spricht er darüber, dass es doch eigentlich gar nichts brauchte. Dass sie abhängig waren vom Wohlwollen des jeweiligen Herrn, dass sie eingeschränkt waren in ihrem Leben und dem ihrer Nachkommen, nie sicher waren und einfach zur Projektionsfläche wurden von Befindlichkeiten, Aberglauben und Hass.
Waren, gewesen, damals, früher. Vergangenheit. Ich werfe ein, ob er all das bewusst in die Vergangenheit setzt und irritiere ihn augenscheinlich damit. Ich bin mir selbst unschlüssig, wir ich das, was ich sage finden soll, denn eigentlich bin ich froh, über diese Analyse, die doch so anders erscheint als das, was sonst zu hören ist. Nur dieses Präteritum, es macht mich unruhig, ich kann es nicht unwidersprochen stehen lassen. Er sucht nach Worten. Fragt, ob ich denn wirklich glaube, Juden seien heute noch immer Projektionsfläche. Ich bejahe. Sage, dass es jetzt doch noch öffentlicher zu sehen ist, als lange Zeit. Das die so genannten Codes von Rothschild, Ostküste etc. wohl kaum noch zu übersehen sind, dass die Bilder vom Ritualmord nicht nur in Geschichtsbildern abgedruckt werden, dass die Protokolle ernsthaft als Quellen und Beweise zitiert werden, dass all das Gegenwart ist. Eine Gegenwart vielleicht, die man nicht notwendigerweise sieht, so man nicht seinen Blick darauf lenkt.
Wir haben uns gegenseitig irritiert. Er meint noch, dass man doch heute auf andere Gruppen projizieren würde, ich bejahe, denke aber, dass dieses offensichtliche „Urfeindbild“ beibehalten wird, dass wir gerade wieder auf einer Welle schwimmen, die wir verebbt glaubten. Die, so hofften wir ein wenig, nur noch leises Plätschern, weit entfernt sei. Sie ist es nicht. Die Welle ist laut und tost.
Wir beenden das Gespräch, das keines war. In meinem Kopf spukt es weiter. Ich frage mich, was das ist. Warum noch später Gesprächsfetzen anderer Teilnehmer auftauchten, die mich ebenso irritierten. Hier wurden Juden per se in die Vergangenheit gesetzt.
Vielleicht ist es doch so, dass ich in meiner Blase all das nicht mehr mitbekomme, vielleicht ist es aber so, dass man eben doch mehr hinaus schauen muss und sagen: Hey, wir sind übrigens noch da. Wir sind keine Vergangenheit, kein Mythos, uns gibt es wirklich, man kann sogar MIT uns reden. Ich meine damit nicht nur uns Juden. In unserem Land wird so gern ÜBER Menschen gesprochen, weniger gern allerdings mit ihnen. Schauen wir uns Diskussionen zum neuen Feminismus an: Männerrunden, schauen wir uns die Welle des Widerspruchs zum Bundesteilhabegesetz an. Die, die es betrifft, die doch am ehesten mitreden sollten, müssen mit #nichtmeingesetz anders Gehör finden.
Ich denke öfter darüber nach, was da nicht stimmt. Schauen wir auf die EM: ein ganzes Land scheint zu wissen, wie man Fußball spielt, wie man Mannschaften trainiert, läuft irgendwas nicht so richtig, wissen alle warum. Selten sehe ich, dass jemand mal sagt, lasst doch mal die reden, die sich auskennen. Sind wir alle so sehr davon überzeugt, über alles Bescheid zu wissen? Sind wir zu stolz oder zu taub, einfach zuzuhören, anstatt lautstark unsere Meinung kund zu tun?
Da schreibt jemand einen Text zu einem klein umrissenen Thema, plötzlich wissen alle über sein Leben, seine Geschichte Bescheid, mokieren sich darüber, dass er ja da und dazu keine Meinung habe. Nutzt man einfach dieses Ding namens Internet merkt man sehr schnell, dass er eine Meinung dazu hat, sich in dutzenden Beiträgen dazu äußerte. Mich verwirrt all das und ich halte es für gefährlich. Vielleicht sollten wir lieber nicht immer alles wissen wollen, sondern uns auf weniges konzentrieren, das wir wirklich kennen, wozu wir etwas sagen können und uns für andere Dinge interessieren, bei denen wir anderen zuhören, die sich damit beschäftigen. Das erscheint mir logischer. Über einen weiten Bogen komme ich immer wieder zu einem, der wie ich finde, schwierigsten Grundsätze des Judentums und eigentlich des menschlichen Miteinanders, so einfach und schwer es ist. Und ja es ist schwer, wir sind zu angesteckt davon, dass jeder über jeden was sagen, wissen, meinen muss, dass wir vergessen, wie gefährlich all das ist. Mich selbst hat dieses Gespräch und das, was ich noch an diesem Tag hörte wieder zu „Lashon haRa“ (hier eine Erläuterung auf Talmud.de und hier eine Podcastfolge der Union for Reform Judaism) geführt und daran erinnert, wie viel es verletzten, entzweien und zerstören kann. Wie viele Streits und Kriege es auslöst und wie selten und seltener, wir wirklich hinschauen.
Und letztlich kann ein Mensch doch immer nur für sich selbst sprechen, nicht für alle, wie man es sich oft genug und immer mehr anmaßt. Und nicht mal sich selbst kennt man oft gut genug. Fangen wir doch einfach im Kleinen an, versuchen es zumindest und sprechen mit jenen, über die wir sprechen wollen.
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